Er stand reglos an der Reling des alten Schiffes. Der Nebel lag schwer über dem Meer, doch langsam kämpfte sich die Silhouette der Hafenstadt durch die dunstige Dämmerung. Seine Augen fixierten die Stadt, sein Blick war scharf und von einem Hauch Bitterkeit durchzogen.
„Port Sigra…,“ murmelte er leise, als würde allein das Aussprechen des Namens eine Last auf seine Schultern legen.
Sein Kopf neigte sich leicht nach rechts, und ohne seinen Blick von der Stadt zu lösen, sprach er: „Tho’Shal, unsere Ankunft muss vorerst geheim bleiben. Arbeitet dein… „Freund“ noch im Hafen?“
Eine Frau trat neben ihn „Ja, Primus. Zumindest tat er das noch, als ich abreiste.“
Die beiden standen schweigend, während das Schiff durch das träge Wasser glitt.
Port Sigra. Der Name schien fast wie ein Flüstern aus dem Nebel zu dringen, ein finsteres Versprechen. Die Stadt wirkte düster, bedrückend, als ob sie jedem Neuankömmling zuriefe: „Dreh um, Narr, solange du noch kannst!“ Ein Schauer kroch über den Rücken des Primus, doch er verdrängte das Gefühl.
Am frühen Abend legte das Schiff in Port Sigra an. Tho’Shal hatte es geschafft, die Einreise für die kleine Gruppe unauffällig zu arrangieren. Ein paar Kupfermünzen reichten, um die richtigen Leute zu überzeugen, ihre Ankunft nicht zu vermerken.
„Korrupt bis ins Mark,“ fluchte Tho’Shal leise, als sie von Bord gingen. Der Primus zuckte nur mit den Schultern und grinste, doch das Grinsen entglitt ihm rasch, als ein stechender Schmerz durch seinen Körper fuhr. Seine Wunden waren noch nicht verheilt, und die Strapazen seit dem Treffen mit Valandor hatten ihren Tribut gefordert. Er hoffte inständig, dass seine List aufging und die Waldläufer sicher waren – sicher mit dem Buch.
Er dachte an Zarah und ihre Kinder. Der Frieden, den er auf ihrem Hof gefunden hatte, fühlte sich nun an wie ein ferner Traum.
„Was hast du getan?“ fragte Tho’Shal ungläubig, als sie später in einem schummrigen Wirtshaus saßen. Ihre Stimme war eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Entsetzen.
„Ich?“ Der Primus zog die Augenbrauen hoch und grinste selbstgefällig. „Ich habe das Buch den Waldläufern überlassen.“
Tho’Shals Mund klappte auf, und sie starrte den Primus an, als hätte dieser den Verstand verloren. „Das… das echte Buch? Den Waldläufern? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“
Der Primus lehnte sich entspannt zurück, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Krug und erwiderte: „Hör mir zu, Tho’Shal. Wir werden gejagt, verfolgt und getötet. Der Feind – wer oder was auch immer er ist – will dieses Buch um jeden Preis. Also frage ich dich: Wo würden sie es niemals vermuten?“
Tho’Shal wollte etwas erwidern, doch der Primus ließ sie nicht zu Wort kommen. „Ich habe Seite an Seite mit diesen Leuten gekämpft, gefeiert. Glaub mir, selten habe ich edlere und ehrenvollere Streiter getroffen. Wenn jemand dieses Buch beschützen kann, dann sie.“
Tho’Shal lehnte sich zurück, schüttelte den Kopf und murmelte: „Ich hoffe, du weißt, was du tust.“
„Das hoffe ich auch,“ entgegnete der Primus grinsend, doch ein Hauch von Unsicherheit blitzte in seinen Augen auf.
Stunden später erreichten sie eine kleine Stadt, in deren Mitte sich ein Kloster erhob. Hohe Mauern umgaben es, und am Tor standen zwei Wachen.
„Halt!“ bellte einer der Wächter, die Lanze fest in der Hand. „Hier habt ihr nichts verloren!“
Der Primus trat vor, zog die Kapuze zurück und enthüllte sein Gesicht. Seine Stimme war ruhig, aber unmissverständlich: „Ich bin Irae, Primus Executor der Wächter. Ich glaube, ich habe hier etwas verloren.“
Die Wachen wurden bleich. Ihre Haltung versteifte sich, und sie nahmen sofort stramm Position ein. „Willkommen, Primus,“ murmelte einer von ihnen schließlich und öffnete das schwere Tor.
Der Primus trat ein, ein Hauch von Genugtuung in seinen Augen. Hinter ihm schloss sich das Tor mit einem dumpfen Dröhnen, als ob es die Welt dort draußen aussperren wollte.
Vor dem großen Rat
Irae stand reglos vor der imposanten Eichentür. Vier Meter hoch und drei Meter breit erhob sie sich wie ein stummes Monument über ihm, die Maserungen des Holzes wirkten wie versteinertes Blut, das in ewigen Bahnen floss. Hinter ihm saß Tho’Shal auf einer schlichten Holzbank, wie gewohnt ein Buch in ihrer Hand.
Schritte hallten durch den steinernen Gang. Irae drehte sich um und entdeckte Elis und Andraste, die in entschlossenen Schritten auf sie zukamen. Elis, in die Robe eines Gelehrten gehüllt, hatte eine unerschütterliche Ruhe an sich, die den Raum förmlich füllte. Andraste hingegen, gekleidet in die schlichte, aber markante Rüstung eines Exsecutors, wirkte wie ein Schatten, der jederzeit zuschlagen konnte.
„Vielleicht,“ dachte Irae, „sollte ich mich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren.“ Doch eine kurze Erklärung über den Orden drängte sich förmlich auf.
Die Struktur des Ordens
Der Orden der Wächter der Flammen ist in drei Hauptzweige unterteilt:
1. Die Krieger
Sie sind die Schildträger des Ordens, jene, die weder die Macht noch das Wissen der Gelehrten oder die Verbundenheit zu Elemnten wie die Exsecutoren besitzen. Ihre Stärke liegt in ihrer Disziplin und ihrem Schutzauftrag, den sie mit eiserner Hingabe ausführen.
2. Die Gelehrten
Ihr Streben gilt einzig und allein dem Wissen. Sie erforschen die Geheimnisse von Shan’a’Dera und den Fluss der Macht. Unter allen Wächtern sind sie die fähigsten, den Fluss zu erkennen und ihn zu formen. Gemein hin auch als Magier bezeichnet.
3. Die Exsecutoren
Die Exsecutoren stehen zwischen Gelehrten und Kriegern. Sie haben ihren eigenen Weg gefunden, die Macht zu nutzen, indem sie sich mit einem Element verbinden, das ihrem Wesen entspricht. Doch ihre radikalen Ansichten und Methoden haben ihnen einen Platz im Rat gekostet.
Die Schritte hallten lauter, und Elis sprach als Erster: „Irae, hast du es getan?“
„Ja,“ antwortete Irae mit einem Nicken, dem Elis nachdenklich folgte.
„Dann hoffen wir, dass es die richtige Entscheidung war,“ sagte Elis mit leiser Besorgnis in der Stimme.
Tho’Shal erhob sich langsam und sprach: „Ich halte das ja immer noch für eine… sagen wir, gewagte Idee.“
Elis wandte sich ihm zu und lächelte schwach. „Und das, obwohl wir diese Entscheidung gemeinsam getroffen haben.“
Tho’Shal zog ihre Augenbraue hoch. „Du hast ihn ermutigt? Das erklärt einiges.“
„Wenn der Primus meint, dass es so sein muss, dann ist es so,“ warf Andraste ein, seine Stimme fest und loyal.
Irae nickte ihm zu. „Ja, der Primus meint, dass es so sein muss,“ sagte er mit einem schelmischen Lächeln.
Der Ratssaal
Das große Tor öffnete sich mit einem tiefen, metallischen Knarren. Zwei Wachen standen stramm an den Seiten, ihre Augen wachsam.
„Tretet ein, Irae,“ erklang eine Stimme aus dem Inneren – kühl und schneidend wie eine Klinge.
Irae richtete sein Gewand, zog die Schultern zurück und trat ein. Seine Schritte hallten leise auf dem steinernen Boden der weitläufigen Halle. Die Dunkelheit im Raum wurde nur von wenigen flackernden Fackeln durchbrochen, deren Licht die Gesichter der Ratsmitglieder kaum erhellte.
„Ratsmitglieder,“ begrüßte Irae sie mit einer respektvollen Verbeugung.
Die Stille hielt nur einen Moment, bevor Ratsmitglied Tremus mit schnatternder Stimme das Wort ergriff. „Irae, uns ist etwas zu Ohren gekommen. Vielleicht könnt Ihr Licht ins Dunkel bringen?“
Irae hob den Kopf, seine Miene ernst. „Nun, Ratsmitglied Tremus, ich werde mein Bestes tun. Aber bitte fragt mich nicht, ob das Disano-Kraut tatsächlich die Manneskraft stärkt. Ich bin in diesem Punkt leider nicht bewandert.“
Ein Raunen ging durch die Halle. Tho’Shal schlug sich die Hand vor die Stirn, während Elis und Andraste mit Mühe ein Lachen unterdrückten.
„Irae!“ fauchte Tremus, seine Stimme überschlug sich vor Wut. Doch bevor er weitersprechen konnte, erklang eine andere Stimme – fest, ruhig, aber mit einer Autorität, die die Halle zum Schweigen brachte.
„Das reicht, Tremus,“ sprach Ratsmitglied Tanair.
„Ratsmitglied Tanair,“ begrüßte Irae ihn mit einer Verbeugung.
„Wärt Ihr so freundlich, uns über den Verbleib des Buches aufzuklären?“ fragte Tanair mit leiser Strenge.
Irae atmete tief durch. „Wie Ihr wünscht,“ begann er. „Wir folgten einer Spur, die uns weit von Esranyr wegführte. Wir fanden das Buch – es bestand kein Zweifel, dass es jenes war. Doch ich entschied, es weiterzugeben. Ich übergab es Waldläufern.“
Die Halle explodierte in einem Sturm aus Stimmen. Schimpfen, Fluchen, Beschimpfungen – die Ratsmitglieder hatten die Kontrolle verloren.
„RUHE!“ donnerte Tanair, und die Stimmen verstummten augenblicklich.
„Erklärt euch, Irae,“ forderte Tanair, seine Stimme jetzt kühl und schneidend.
Ein unruhiges Raunen zog durch die Reihen der Ratsmitglieder, wie ein Windstoß, der eine Kerzenflamme erzittern lässt. Die flackernden Fackeln warfen tanzende Schatten an die Wände der düsteren Halle, doch Irae blieb unbewegt. Sein Blick war fest, seine Stimme klar, als er sprach:
„Als wir im Hochsommer den Waldläufern begegneten, wusste ich, was zu tun war. Niemand würde das Buch bei ihnen vermuten. Niemand würde glauben, dass wir ihnen das Buch überlassen würden.“
„Mit Recht!“ rief ein Ratsmitglied zornig, und das Raunen schwoll erneut an.
Irae ließ sich nicht beirren. „Ratsmitglieder,“ begann er eindringlich, „die Zeichen sind eindeutig. Berichte von Träumen häufen sich – Träume, die die A’Shan’Dur beschreiben.“
„Habt ihr selbst einen solchen Traum gehabt? Oder seid ihr einem A’Shan’Dur begegnet?“ warf ein Ratsmitglied ein, die Skepsis in seiner Stimme unüberhörbar.
„Nein,“ erwiderte Irae mit einer Spur Provokation, „doch die Zeichen sprechen für sich. Es mehren sich Geschichten von Träumen der Dunkelheit und von einer Frau mit goldenen Augen.“
Die Spannung in der Halle war greifbar, als Ratsmitglied Tanair das Wort ergriff. Seine Stimme war tief und drohend: „Also habt ihr eigenmächtig entschieden, das Buch dahergelaufenen Waldläufern zu übergeben?“
„Vater, ich…“ begann Elis zu sprechen, doch Irae hob die Hand, um ihn zu stoppen.
„Ja,“ sagte Irae mit gereizter Stimme. „Ich habe diese Entscheidung alleine getroffen. Und achtet auf eure Worte.“
Eine betäubende Stille breitete sich aus, als Iraes Worte wie ein schneidender Dolch durch die Halle fuhren. Noch ehe die Ratsmitglieder reagieren konnten, öffnete sich das große Tor hinter ihnen. Ein Knappe trat ein, verbeugte sich tief und ging schnellen Schrittes auf Ratsmitglied Tanair zu.
Irae drehte sich leicht um, sein Blick traf den von Andraste. Der Exsecutor nickte kaum merklich, ein stummer Austausch, in dem mehr gesagt wurde, als Worte je ausdrücken könnten. Ein unheilvolles Grinsen huschte über Iraes Gesicht, bevor er sich wieder dem Rat zuwandte.
Ein unheilvolles Grinsen
Die Ratsmitglieder versammelten sich um Tanair und begannen hastig zu tuscheln. Es vergingen einige angespannte Augenblicke, bis sie wieder ihre Plätze einnahmen.
Tanair richtete sich auf und sprach mit kalter Schärfe: „Gibt es einen Grund, warum soeben alle Exsecutoren eingetroffen sind, Primus Irae?“
Irae zog die Augenbrauen hoch, seine Stimme war unschuldig: „Oh, sind sie das? Jetzt, wo Ihr es erwähnt… ja, wir haben einen Ausflug vor.“
Ein empörtes Schnattern kam von Ratsmitglied Tremus: „Ihr habt was vor?“
Irae zuckte mit den Schultern. „Wir werden nach Osten reisen. Dort treffen wir die Waldläufer.“
Tho’Shal, die das Geschehen schweigend beobachtet hatte, hob eine Augenbraue.
Ein langes Schweigen folgte, während der Rat sich erneut beriet. Als sie zurückkehrten, sprach Tanair mit einer Stimme, die von einem Hauch Bedrohung durchzogen war: „Gut, Irae. Reist gen Osten und trefft euch mit jenen Waldläufern. Doch solltet ihr versagen, gibt es für euch in diesem Orden keinen Platz mehr.“
Irae verneigte sich leicht, sein Gesicht ruhig, doch in seinen Augen brannte eine unerbittliche Entschlossenheit. „Sollten wir versagen,“ sagte er, „dann ist mein Platz in diesem Orden das Letzte, worum ich mir Sorgen machen werde.“
Ein leichter Schimmer von Hitze flackerte in der Luft um ihn herum, und die Ratsmitglieder wichen unwillkürlich ein wenig zurück.
Der Weg ins Ungewisse
Irae trat aus der Halle, dicht gefolgt von Tho’Shal, Elis und Andraste. Der Gang war dunkel, die Stille nur vom leisen Knarren der Schritte unterbrochen.
„Sag mal,“ begann Tho’Shal mit einem Anflug von Ironie, „liegt Port Sigra nicht im Westen?“
Irae lächelte schmal. „In der Tat.“
„Und sagtest du nicht, dass die Waldläufer über Port Sigra reisen wird?“
„Richtig,“ antwortete Irae mit gespielter Verwunderung. „Ich bin beeindruckt von deinem scharfen Gedächtnis, Tho’Shal.“
Er hielt inne, sah sich um und sprach dann leise weiter: „Es kommt mir eigenartig vor, dass wir immer dann angegriffen werden, wenn wir dem Rat eine Spur des Buches mitteilen. Deshalb habe ich Andraste gebeten, unsere Brüder und Schwestern hierher zu rufen. Der Rat würde nie offen gegen uns vorgehen, nicht wenn wir alle hier sind.“
Tho’Shal nickte langsam, ihre Augen verengten sich. „Aber…?“
„Alles auf eine Karte“ entgegnete Irae mit einem wissenden Lächeln.
Als die Gruppe den Hof erreichte, blieb Andraste stehen. „Achtung!“ rief er mit durchdringender Stimme.
Vor ihnen standen etwa vierzig Exsecutoren in perfekter Formation. Ihre Ordenskleidung schimmerte düster im schwachen Licht der Fackeln, und sie salutierten, als Irae den Hof betrat.
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Brüder und Schwestern,“ sprach er mit fester Stimme, „es sieht aus, als würde der Tod uns um einen letzten Tanz bitten.“
Ein feixender Ruf kam aus den Reihen: „Aber Irae, du bist der schlechteste Tänzer, den ich kenne! Wir sind verloren!“
Lachen brandete auf, doch Irae hob die Hand, und Stille kehrte zurück. „Ich will, dass alle in einer Stunde abreisebereit sind. Dunkle Zeiten liegen vor uns.“
Eine Frau trat vor, ihre Augen glühten vor Entschlossenheit. „Bis zum letzten Atemzug, Bruder.“
Irae nickte. Eine Stunde später setzte sich die kleine Armee in Bewegung, ihre Reise gen Osten – und in die Ungewissheit – begann.