Der Weg gen Osten
Die Kolonne der Exsecutoren bewegte sich schweigend durch die kargen Lande, ein düsterer Zug aus entschlossenen Gestalten, deren Schritte im Takt über den frostigen Boden hallten. Der Himmel war bleiern, Wolken hingen tief und schwer, als wollten sie die Welt unter sich ersticken. Irae ging an der Spitze, sein Mantel wehte leicht im kalten Wind, doch seine Gedanken waren weit entfernt – bei den Waldläufern, dem Buch und einer vagen Hoffnung, die er kaum zu greifen wagte. Neben ihm schritt Tho’Shal, deren Blick wachsam die Umgebung abtastete, während Elis und Andraste die Flanken sicherten. Die Stimmung war angespannt, doch die Einheit hielt die Gruppe zusammen wie ein unsichtbares Band.
Nach zwei Tagen Marsch, als die Dämmerung den Horizont in ein fahles Grau tauchte, führte Irae die Gruppe von der Hauptstraße ab. „Ein kleiner Umweg,“ erklärte er knapp, ohne seinen Begleitern in die Augen zu sehen. „Ein Ort, den ich noch einmal sehen muss.“ Tho’Shal runzelte die Stirn, doch sie schwieg. Sie kannte diesen Tonfall – eine Mischung aus Entschlossenheit und etwas, das sie nicht recht einordnen konnte.
Der Hof tauchte am Rande eines kleinen Tales auf, doch schon bevor sie die Anhöhe erreichten, stieg ein bitterer Geruch in die Luft – verbranntes Holz, Asche und etwas Schwereres, das sich in die Kehle legte. Irae beschleunigte seine Schritte, seine Haltung versteifte sich, als die Silhouette des einstigen Heims in Sicht kam. Wo einst das einfache Holzhaus gestanden hatte, ragten nun nur noch verkohlte Balken in den Himmel, ein Skelett aus Ruß und Zerstörung. Der Stall war eingestürzt, die Überreste der Hühnerställe zerstreut wie verlorene Erinnerungen. Stille lag über dem Ort, eine Stille, die schwerer wog als jeder Sturm.
Irae blieb stehen, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Die anderen hielten respektvoll Abstand, doch ihre Blicke folgten ihm, als er langsam näher trat. Der Wind trug Ascheflocken heran, die sich auf seinem Mantel niederließen, doch er schien es nicht zu bemerken. Sein Blick wanderte über die Trümmer, suchte etwas – ein Zeichen, ein Überbleibsel jener Tage der Ruhe, die er hier gefunden hatte. Dann erstarrte er. Seine Augen hafteten an einem Baum am Rand des Hofes, einem alten, knorrigen Stamm, der einst Schatten gespendet hatte. Jetzt trug er eine andere Bürde. Ein leises Keuchen entfuhr ihm, kaum hörbar, doch es schnitt durch die Stille wie ein Messer. Seine Schultern sanken, und für einen Moment wirkte der unerschütterliche Primus wie ein Mann, der unter einer unsichtbaren Last zusammenbrach.
Tho’Shal trat vorsichtig näher, ihre Stimme sanft, aber fest. „Irae… was ist hier passiert?“ Doch er antwortete nicht. Sein Blick blieb gefangen, seine Miene ein stummer Schrei, den er nicht herausließ. Andraste, der die Szene aus der Ferne beobachtete, legte eine Hand auf den Griff seines Schwertes, als könnte er die Vergangenheit bekämpfen. Elis hingegen senkte den Kopf, seine Lippen bewegten sich in einem unhörbaren Fluch.
„Wir sollten… ihnen Ehre erweisen,“ brachte Irae schließlich hervor, seine Stimme rau und brüchig wie die verkohlten Überreste um ihn herum. Er drehte sich abrupt weg, als wollte er den Anblick auslöschen, und deutete auf eine freie Stelle nahe des ehemaligen Gartens. „Dort. Grabt.“ Es war kein Befehl, sondern eine Bitte, die niemand in Frage stellte.
Die Exsecutoren machten sich schweigend an die Arbeit. Mit Schwertern und bloßen Händen hoben sie die Erde aus, während Irae abseits stand, den Blick in die Ferne gerichtet. Tho’Shal trat zu ihm, legte eine Hand auf seine Schulter, doch er schüttelte sie nicht ab – ein Zeichen, dass er ihre Nähe duldete, vielleicht sogar brauchte. „Wer immer das war,“ flüsterte sie, „sie werden dafür bezahlen.“ Irae nickte nur, seine Kiefermuskeln angespannt, die Augen glänzend vor unterdrückter Wut.
Als die Gräber fertig waren, sammelte die Gruppe, was sie konnte – kleine Dinge, die zwischen den Trümmern überlebt hatten: eine zerbrochene Schale, ein Stück Stoff, eine Kinderzeichnung, halb verbrannt. Sie legten sie sorgfältig in die Erde, ein stilles Zeugnis dessen, was verloren war. Niemand sprach die Namen aus, niemand beschrieb, was sie wussten. Es war nicht nötig. Die Leere sprach für sich.
Irae kniete als Letzter nieder, seine Hand ruhte kurz auf der frisch aufgeworfenen Erde. „Ruht in Frieden,“ murmelte er, so leise, dass nur der Wind es hörte. Dann erhob er sich, straffte die Schultern und wandte sich an seine Gefährten. „Wir gehen weiter. Der Osten wartet.“ Seine Stimme war wieder fest, doch in seinen Augen brannte ein neues Feuer – eines, das nicht nur für das Buch oder den Orden loderte, sondern für eine Schuld, die er mit sich trug.
Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung, der zerstörte Hof verschwand hinter ihnen im Nebel. Doch für Irae blieb er zurück – ein Schatten, der ihn auf jedem Schritt begleiten würde.