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Die letzten Tage… Teil V Feuer und Schatten

Der Marsch ins Flüstern

Die Tage wurden länger, doch das Licht schien kürzer zu werden.
Die Kolonne der Exsecutoren bewegte sich schweigend gen Westen – durch Ländereien, die einst vertraut gewirkt hatten, nun aber fremd und verzerrt schienen. Der Wind trug keinen Duft von Moos oder Wald mehr, sondern roch nach altem Stein, kaltem Eisen und etwas, das an nasse Asche erinnerte. Und mit jedem Schritt wurde er stärker, eindringlicher – ein flüstern im Ohr, das niemand laut zugeben wollte. Es klang nicht wie Worte, eher wie der Rest eines vergessenen Gebets.
Tho’Shal war die Erste, die innehielt. Sie hatte etwas gesehen. Einen Schatten zwischen zwei knorrigen Birken – zu schnell, zu leise. Als sie den Blick schärfte, war da nichts. Nur Wind. Und doch… war da etwas gewesen.

„Wir werden beobachtet,“ sagte sie später leise zu Irae. Er antwortete nicht sofort. Sein Blick lag auf einem alten Wegstein, der aussah, als hätte ihn jemand mit Nägeln traktiert – und doch war da kein Blut. Nur Kratzer, tief, ziellos. Zeichen?

Am dritten Tag veränderte sich die Landschaft. Der Boden wurde sumpfig, auch dort, wo keiner war. Die Luft wurde schwer, als müsste man durch Wasser atmen. Bäume, deren Äste sich wie Finger bogen, ragten über den Weg und warfen Schatten, die zu viel bewegten, als dass es nur der Wind hätte sein können.

Die Exsecutoren sprachen kaum noch. Und wenn, dann flüsternd.
In der vierten Nacht blieb Elis plötzlich stehen. Er hielt die Gruppe an. „Hört ihr das?“ fragte er.

Alle lauschten.

Nichts.

Doch dann: ein Flüstern. Ganz leise. Kein Wind. Kein Tier. Etwas anderes.

Tho’Shal zog instinktiv ihr Schwert. Andraste legte eine Hand auf die Scheide, hielt aber inne. Irae hingegen schloss kurz die Augen. Dann sagte er nur: „Wir gehen weiter.“

Der Sturm aus Schatten

Am fünften Tag erreichten sie eine moorige Senke, in der der Nebel besonders dicht hing. Die Geräusche der Welt klangen gedämpft, als würde etwas Großes unter der Erde atmen – träge, unheilvoll. Der Weg war schmal geworden, der Boden weich und tückisch. Tho’Shal spürte es zuerst: eine Veränderung der Luft, ein unsichtbares Zittern in der Welt. Dann war es Elis, der innehielt. „Irae…“
Doch da war es bereits zu spät.

Die Schatten am Rand des Weges begannen sich zu bewegen. Erst langsam, dann schneller.
Figuren tauchten aus dem Nebel auf – Dutzende, bald Hunderte. Schwankende, gebückte Gestalten, bleich wie Knochen, mit leeren Augen und zitternden Gliedmaßen. Ihre Bewegungen waren abgehackt, fahrig, und doch zielgerichtet. Wie Getriebene, wie Hungernde.
Sie kamen aus allen Richtungen.

„Stellung halten!“ rief Andraste, seine Stimme ein Fels in der Brandung. Die Exsecutoren formierten sich, Schwerter zogen Linien in die Luft, Zauberzeichen glimmten auf. Doch die Gegner waren zu viele. Für jeden, der fiel, kamen drei weitere nach.

Ein Dutzend dieser Wesen war kaum eine Bedrohung – doch ein Heer von ihnen, wie Wasser über einen Deich gespült, war es sehr wohl.

Die Exsecutoren kämpften mit Präzision und Disziplin, doch ihre Linien wurden zurückgedrängt. Immer wieder stürzten die blassen Kreaturen sich auf ihre Schilde, klammerten sich daran, bissen, kratzten. Ihre Schwäche wurde durch schiere Anzahl ersetzt, ihre Unfähigkeit durch blinden Drang.

Die Erde war von Schritten und Schreien zerrissen, der Nebel wogte wie lebendig.

Dann – ein Schrei von Tho’Shal. „Irae – sie brechen durch!“

Irae wirbelte herum. Am westlichen Rand der Senke war ein Schwarm der Kreaturen durchgebrochen.
Ein letzter Trupp von etwa zwanzig Gegnern hatte sich in einer Senke verschanzt – schwach, zitternd, aber von einer stummen Entschlossenheit erfüllt, wie Tiere in die Enge getrieben.

Sie waren umzingelt. Und doch hielt sie nichts zurück.

Irae kniff die Augen zusammen. Dann – ein knapper Blick auf Tho’Shal, ein Nicken.
„Werfen wir den Ofen an“, sagte er ruhig. Dann, lauter:
„Weg da!“

Andraste und Saxum traten vor, verhakten die Unterarme. Ihre Gesichter verzogen sich vor Anstrengung, Muskeln angespannt, Adern hervortretend.
Der Boden unter den Feinden begann zu beben – und dann barst er.
Mit einem donnernden Grollen riss der Morast auf, und schmatzende Schlammfontänen schossen empor, rissen die Feinde bis zur Hüfte in eine zähe Falle.
Die Schwachen schrien, strampelten, sanken tiefer.

In diesem Moment schleuderten Irae und Tho’Shal ihre Hände nach vorn – ein doppeltes Inferno entlud sich aus ihren Fingern.
Flammen wirbelten empor, wurden erfasst von einem herabstoßenden Luftwirbel, entfacht von Saxum Zauber – eine Windhose, die sich mit den Flammen vereinte und die schlammgetauchten Feinde wie eine Feuerkrone umfing.
Ihre Schreie – gurgelnd, brennend, unmenschlich – ließen das Blut der Umstehenden gefrieren.

Und dann: Stille.
Das Feuer verebbte.
Rauch stieg auf.

Doch der Preis war hoch.

Andraste schwankte, Blut lief aus ihren Ohren.
Tho’Shals Gesicht war vom eigenen Blut getränkt.
Saxum und Nimbifer knieten erschöpft im Matsch, bleich, erschöpft.
Und Irae – Irae brach zusammen, Blut spuckend, die Finger zitternd.

Als sie sich gegenseitig wieder auf die Beine halfen, mühsam, taumelnd, die Kleidung geschwärzt vom Kampf – bemerkte Irae sie.

Eine dunkle Gestalt.
Am Rande der Lichtung.
Reglos.
Beobachtend.

Der Schatten und das Feuer

Die dunkle Gestalt am Rande der Lichtung bewegte sich nicht.
Und doch – mit jedem Wimpernschlag rückte sie näher.
Die Welt um sie herum schien zu verblassen, Farben zogen sich zurück, das Licht wurde dumpf, als hätte jemand einen Vorhang zwischen Himmel und Erde gespannt. Die Geräusche des Waldes verstummten. Kein Wind, kein Rauschen, kein Leben.

Eine Kälte breitete sich aus. Nicht die des Winters – etwas Älteres, Schwereres. Sie schnitt nicht, sie zerriss.

Die Exsecutoren sanken einer nach dem anderen in die Knie. Einige hielten sich noch aneinander fest, andere wankten wie Halme im Sturm.
Andraste presste die Lippen aufeinander, Tränen gefroren auf seiner Wange.
Tho’Shals Hände krampften, doch sie konnte sich nicht rühren. Ihre Stimme versagte ihr.

Der Schatten trat vor. Eine Silhouette ohne Gesicht, ohne Form, als hätte die Nacht selbst beschlossen, zu wandeln. Wo er ging, zog sich Hoffnung zurück, als flöhe sie vor etwas, das sie nicht benennen konnte.

Dann – ein Laut. Ein Knacken. Ein Schritt. Und Feuer.

Zuerst war es nur ein Glühen in Iraes Augen.
Dann Flammen – wild, golden, schmerzhaft hell.
Er richtete sich auf, schwankend, stöhnend, als würde ihn etwas Unsichtbares niederdrücken. Doch sein Wille war stärker.
Er stand.

Sein ganzer Körper loderte auf – ein lebender Brand, der nicht verzehrte, sondern schützte.
Die Kälte wich zurück, zischend, knirschend, als wolle sie nicht gehen.
Irae breitete die Arme aus, sein Blick brannte wie zwei Sonnen. Er stellte sich zwischen seine Brüder und Schwestern und den herannahenden Schrecken.

Die Gestalt verharrte.

Dann ein Schrei – unmenschlich, markerschütternd, wie von einem Wesen, das die Welt nie hätte betreten dürfen. Zorn, Hass, uralte Verachtung.

Die Welt bebte.

Und dann – Stille.

Ein Schnitt durch Raum und Zeit.
Die anderen sahen nur Iraes Rücken. Aufrecht, brennend, wie ein Leuchtfeuer gegen das Dunkel.
Dann – ein Laut, dumpf und endgültig.

Ein Schwert hatte sich durch seinen Brustkorb gebohrt. Die Klinge ragte aus seinem Rücken, funkelnd im flackernden Licht seines Feuers.
Tho’Shal schrie auf, wollte auf ihn zustürzen, doch konnte sich nicht bewegen. Niemand konnte es.

Irae sackte nicht sofort zusammen.
Er atmete. Keuchend. Brennend.
Dann – sammelte er die letzte Kraft, die ein Mensch aufbringen konnte.

Mit einem Aufschrei, geboren aus Schmerz, aus Wut, aus Liebe zu denen hinter ihm –
entbrannte er ein letztes Mal. Das Feuer wurde heller als alles, was sie je gesehen hatten. Ein Sturm aus Licht und Glut, der den Schatten zurücktrieb.
Die dunkle Gestalt stieß einen zweiten, verzerrten Schrei aus – diesmal war es Angst –
und floh. Ohne Laut. Ohne Gestalt. Ohne Namen. Sie ließ nur das Schwert zurück.

Irae stand noch einen Moment.
Dann brach er zusammen.

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